Interview von Sam Tanson im Luxemburger Wort

"Wie auf der Achterbahn"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Sam Tanson, Sie haben vor fast einem Jahr das Justizministerium von Ihrem Parteikollegen Félix Braz übernommen. Welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten gemacht?

Sam Tanson: Das vergangene Jahr kam mir vor wie eine lange Achterbahnfahrt. Als ich die Verantwortung für das Justizressort übernommen habe, war ich noch nicht einmal ein Jahr lang in der Regierung. Ich hatte mich gerade in meine Ressorts eingearbeitet. Als Justizministerin musste ich mir zunächst meine Prioritäten setzen. Mir liegen vor allem der Schutz der Benachteiligten und der Zugang zur Justiz am Herzen. Doch dann kam die Corona-Krise und setzte ihre eigenen Prioritäten. Im Kampf gegen die Pandemie geht es natürlich um den Schutz von Menschen, die gesundheitlich ein höheres Risiko haben. Es geht aber auch um den Schutz von Personen, die sozial gefährdet sind, beispielsweise um Frauen und Kinder, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Eine weitere Herausforderung war es, den Justizapparat am Laufen zu halten. Die Monate im Ausnahmezustand waren hart, aber auch sehr lehrreich. Wir befinden uns immer noch in einer delikaten Situation. Als Regierung haben wir über Monate die Grundrechte der Bürger stark beschnitten, und tun dies in abgeschwächter Form bis heute. Wir müssen uns also permanent infrage stellen und ständig überprüfen, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Wir müssen auch weiterhin dafür sorgen, dass das Recht auf Gesundheit und die Grundrechte im Gleichgewicht bleiben. Wir stehen in der Verantwortung, die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren.

Luxemburger Wort: Als es zu der Regierungsumbildung kam, haben Sie das Wohnungsbauministerium aufgegeben. War es für Sie eine schwierige Entscheidung?

Sam Tanson: Die tragische Situation machte eine Regierungsumbildung unumgänglich. Es war keine bewusste Entscheidung von mir, es war nichts, das ich mir gewünscht habe. Ich bin Juristin und habe lange als Anwältin gearbeitet. Als Abgeordnete war ich Vorsitzende der Justizkommission und ich war eine Zeit lang Mitglied des Staatsrats. Für meine Partei lag es also irgendwie auf der Hand, dass ich die Arbeit von Félix Braz weiterführen und die Verantwortung übernehmen sollte. Als Wohnungsbauministerin hatte ich mir viel vorgenommen. Ich hätte meine Pläne auch gerne umgesetzt. Es ist aber nicht möglich, neben dem Justiz- und dem Kulturressort auch noch das Logementministerium zu führen. Ein Ressort musste ich also abgeben. Kultur ist mir eine Herzensangelegenheit, deshalb habe ich den Wohnungsbau an Henri Kox übergeben. Das Ressort ist bei ihm in guten Händen.

Luxemburger Wort: Mit der Jucha-Datenbank und der Datenschutzdebatte haben Sie ein schwieriges Dossier von Ihrem Vorgänger geerbt. Sie haben sich früh für ein neues Gesetz ausgesprochen. Auch die Autorité de contrôle judiciaire fordert in ihrem Gutachten, dass gesetzlich nachgebessert wird. Wie wollen Sie nun vorgehen?

Sam Tanson: Ich arbeite eng mit dem Polizeiminister zusammen, zunächst mit François Bausch und jetzt mit Henri Kox. Im Bereich der Polizei liegt mittlerweile ein Vorentwurf vor, der vor allem regelt, wie lange die Daten gespeichert werden dürfen. Mir war klar, dass wir auch bei der Justiz diesen Weg gehen müssen. Ich wollte das Gutachten der Autorité de contrôle judiciaire abwarten, um eine Meinung von außen zu haben. Es erstaunt mich nicht, dass das Kontrollgremium diese Einschätzung bestätigt.

Luxemburger Wort: Wie sieht es mit der Zeitschiene aus?

Sam Tanson: Ich gehe davon aus, dass wir den Text bis Ende dieses Jahres oder aber Anfang nächsten Jahres fertigstellen können. Es gibt drei Schwerpunkte. Wir müssen konkret klären, welche Daten wie lange gespeichert werden dürfen, beziehungsweise wie lange sie zugänglich sind, bevor sie archiviert werden. Dann müssen wir definieren, wer Zugriff auf die Daten hat. Auch die Rückverfolgbarkeit der Zugriffe muss garantiert sein. Der - dritte Schwerpunkt betrifft die Finalität. Wir müssen regeln, unter welchen Bedingungen existierende Daten für andere Zwecke gebraucht werden können, beispielsweise für die Überprüfung der Ehrbarkeit, die sogenannte Honorabilité, die ja am Anfang der gesamten Debatte stand. Es ist wichtig, dass die einzelnen Bedarfsfälle geklärt werden. Wir müssen unterscheiden, ob es um die Einstellung von Richtern oder um Sicherheitspersonal geht, oder aber um einen Waffenschein. Diesen Punkt werden wir in einem separaten Gesetz regeln. Dieser Text ist fast fertig, ich werde ihn demnächst auf den Instanzenweg bringen.

Luxemburger Wort: Sie sprechen sich klar für ein neues Gesetz aus. Ihr Vorgänger Félix Braz vertrat eher die Meinung, dass das bestehende Gesetz die Datenbanken der Justiz hinreichend abdeckt. Wie kam es zu diesem Wandel?

Sam Tanson: Die Situation ist heute eine andere als vor einem Jahr. Wir verfügen über neue Erkenntnisse. Ich will nicht spekulieren, doch es hätte durchaus sein können, dass Félix Braz seine Meinung revidiert hätte. Die Diskussion haben wir übrigens bereits 2018 geführt, als die beiden Gesetze verabschiedet wurden. Damals kam es zu einem Paradigmenwechsel. Der frühere Text sah vor, dass für die Erhebung von Daten eine Genehmigung vorliegen muss. Das neue Gesetz verlagert die Verantwortung auf den Datenschutzbeauftragten. Jetzt stellen wir fest, dass dies nicht richtig funktioniert. Die Datenschutzkommission war übrigens bereits 2018 der Meinung, dass der aktuelle Text nicht ausreicht und dass es einen separaten Text braucht.

Luxemburger Wort: Im Zusammenhang mit der Polizei gab es im Ausschuss längere Diskussionen wegen der Sanktionen. Zeichnet sich in dem Punkt eine Lösung ab?

Sam Tanson: Grundsätzlich teile ich die Meinung der Abgeordneten, dass es strafrechtliche Folgen geben muss, etwa wenn jemand sich unerlaubt Zugang zu den Daten verschafft. Das aktuelle Gesetz sieht nur Ordnungsstrafen vor. Zum jetzigen Zeitpunkt steht aber noch nicht fest, wie wir genau vorgehen werden, die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen. Die ' Datenschutzfrage stellt sich nämlich nicht nur bei der Polizei und bei der Justiz. Auch andere staatliche Behörden verfügen über sensible Daten. Wir müssen also verhindern, dass es zwar Sanktionen für Richter, Justizmitarbeiter und Polizisten gibt, nicht aber für andere Beamten.

Luxemburger Wort: Im Rahmen der Verfassungsdebatte stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit der Justiz. Der vorliegende Text des CSV-Abgeordneten Léon Gloden hält die Unabhängigkeit nur für die Richterschaft explizit fest, nicht aber für die Staatsanwaltschaft. Wie beurteilen Sie die Diskussion?

Sam Tanson: Ich tue mich schwer mit der Argumentation und bedauere die Entwicklung. Im Ausland, etwa in Frankreich, geht die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung. Ich möchte in dem Kontext daran erinnern, dass der Entwurf der Verfassungsreform von vielen internationalen Gremien wie der Commission de Venise oder vom Greco gelobt wurde, eben weil wir die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in der-Verfassung verankern wollten. Jetzt soll der Passus gestrichen werden, ich sehe aber nicht, wo die Reise wirklich hingehen soll. Der aktuelle Text wirf nämlich viele Fragen auf. Die erste ist eher rechtsphilosophischer Art. Meiner Meinung nach ist die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft per se eine gute Sache. Eine politisierte Staatsanwaltschaft ist nicht in unserem Interesse. Der Justizminister darf den Staatsanwälten nicht vorschreiben können, ob und wann sie eine Untersuchung einleiten sollen oder dies nicht tun sollen. Sicher, die Staatsanwaltschaft muss Rechenschaft ablegen, denkbar wäre etwa ein jährlicher Bericht an das Parlament. Es gibt aber auch ganz praktische Fragen, etwa im Zusammenhang mit dem geplanten Conseil suprême de la Justice. Auch die Staatsanwaltschaft wird in diesem Gremium vertreten sein. Wenn aber nicht alle Mitglieder den gleichen Grad an Unabhängigkeit genießen, dann stellt dies ein Problem für die Funktionsweise des Justizrats dar. Wir dürfen auch die europäische Staatsanwaltschaft, die so langsam Form annimmt, nicht außer Acht lassen.

Hier spielt gerade die Unabhängigkeit der Justiz eine sehr zentrale Rolle. Wegen all dieser Fragen bin ich auf das Gutachten des Staatsrats gespannt.

Luxemburger Wort: Der oberste Justizrat ist das Kernstück der großen Justizreform. Welche anderen Elemente sind Ihnen besonders wichtig?

Sam Tanson: Ein zentrales Element ist der Zugang zur Justiz, der vereinfacht werden muss. Dazu gehört auch die Digitalisierung. Ein positiver Nebeneffekt der Corona-Krise ist, dass wir bei der Digitalisierung aus der Not heraus einen riesigen Schritt nach vorne gemacht haben. Zahlreiche Prozeduren, die vorher die Präsenz der Beteiligten erforderten, können nun per Mail erledigt werden. Wir hatten während des Etat de Crise über den Weg von Verordnungen Änderungen beschlossen, die anschließend in Gesetzen übernommen wurden. Im Herbst werden wir Bilanz ziehen, um herauszufinden, was wir beibehalten wollen beziehungsweise, wo wir noch nachbessern müssen. Vieles ist auf digitalem 'Weg möglich, aber nicht alles. Es ist natürlich eine große Umstellung.

Luxemburger Wort: Gibt es noch weitere Punkte?

Sam Tanson: Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Effizienz der Justiz. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt vor, samt den Änderungsanträgen. Nun ist der Staatsrat am Zug. Ziel ist es, dass die Prozeduren vereinfacht werden und dadurch schneller durchlaufen werden können. Beispielsweise sollen in Zukunft mehr Fälle vor dem Friedensgericht verhandelt werden können. Deshalb wurde der maximale Schadenswert, der die Zuständigkeit des Friedensgerichts festlegt, von 10 000 auf 15 000 Euro angehoben. Darüber hinaus soll auch die Rechtshilfe reformiert werden. Das aktuelle System ist nicht gerecht, weil es eine strikte Obergrenze beim Einkommen des Betroffenen vorsieht. Liegt es auch nur einen Cent darüber, steht ihm kein kostenloser juristischer Beistand zu. Deshalb haben viele Menschen, die nur ein bisschen mehr verdienen, aus finanziellen Gründen nicht die Möglichkeit, vor Gericht zu ziehen. Durch die Einführung des Revis hat sich die Situation zwar etwas entspannt, es bleiben aber noch viele Ungerechtigkeiten. Deshalb wollen wir nun eine Staffelung einführen. Die Gespräche mit der Anwaltschaft laufen, auf Basis dieser Diskussionen werde ich dann den Text ausarbeiten.

Luxemburger Wort: Durch den Lockdown kam es bei den Gerichtsinstanzen zu Verzögerungen. Konnten die Verspätungen mittlerweile wieder aufgeholt werden?

Sam Tanson: Die Situation ist sehr unterschiedlich. Beim Verwaltungsgerichtshof gibt es beispielsweise keine Probleme. Die Friedensgerichte haben am meisten mit den Folgen des Lockdown zu kämpfen. Auch deshalb sollen die Prozeduren für die Pfändungen vereinfacht werden. Es ist zwar nur ein Detail, doch angesichts der vielen Fälle, die anhängig sind, wird dies schon zu einer gewissen Entlastung führen. Wir müssen die Friedensgerichte generell entlasten, weil wegen der Justizreform mehr Arbeit auf sie zukommen wird.

Luxemburger Wort: Der Jugendschutz ist eine Dauerbaustelle. Der Staatsrat hat den Text mit 24 formellen Einwänden belegt, seit Dezember 2019 ist nicht mehr viel passiert. Wann und wie geht es weiter?

Sam Tanson: Wir arbeiten eng mit Renate Winter, der Vizepräsidentin des UN-Kinderrechtskomitees, zusammen. Durch die Corona-Krise ist die Zusammenarbeit leider etwas ins Stocken geraten. Zurzeit gibt es einen einzigen Text für den Jugendschutz und das Jugendstrafrecht. Es gab aber von Anfang an Bedenken. Wegen der vielen Einwände haben wir uns daher für zwei getrennte Texte entschieden, einen für das Jugendstrafrecht und einen für den Jugendschutz. Natürlich gibt es Berührungspunkte. Jugendliche, die kriminell werden, haben in den Jahren davor meist nicht den Schutz bekommen, den sie gebraucht hätten. Und natürlich spielt auch die Frage des Strafvollzugs in Schrassig eine Rolle. Laut internationalen Konventionen darf ein Jugendlicher nicht zusammen mit Erwachsenen inhaftiert werden. Das bedeutet, dass wir das Problem der Infrastrukturen lösen und für sämtliche Fälle eine adäquate Lösung finden müssen.

Luxemburger Wort: Sie beginnen also wieder ganz von vorne?

Sam Tanson: Wir fangen nicht bei null an, wir werden auf der Vorarbeit aufbauen. Ich hoffe, dass die beiden Texte im Verlauf des kommenden Jahres fertig werden. Ich wünsche mir nämlich, dass die Gesetze noch vor den Wahlen gestimmt werden können, sonst kann es sein, dass es wieder in eine andere Richtung geht und noch länger dauert.

Luxemburger Wort: Das Abstammungsrecht ist eine weitere Dauerbaustelle, an der sich bereits mehrere Justizminister die Zähne ausgebissen haben. Gibt es Fortschritte zu vermelden?

Sam Tanson: Die Reform des Abstammungsrechts befindet sich in der Tat schon sehr lange auf dem Instanzenweg, so lange, dass der wissenschaftliche Fortschritt den Text in einigen Punkten schon wieder überholt hat. Zurzeit warten wir auf das Gutachten des Staatsrats. Die Materie ist äußerst komplex. Das größte Problem ist, dass unser Zivilrecht in dem Punkt die internationalen Konventionen nicht respektiert und Kinder von verheirateten und nicht verheirateten Paaren ungleich behandelt. Das geht nicht. Es besteht also akuter Handlungsbedarf. Zudem trägt unser Zivilrecht der gesellschaftlichen Entwicklung längst nicht mehr Rechnung. In Frankreich geht man beispielsweise davon aus, dass jedes 30. Kind über den Weg einer künstlichen Befruchtung gezeugt wird. Alle Formen des Zusammenlebens, aber auch die medizinischen Möglichkeiten müssen gesetzlich geregelt werden. Wir brauchen auch eine gesetzliche Lösung für Kinder, die im Ausland von einer Leihmutter ausgetragen werden, obschon diese Praxis in Luxemburg verboten wird. Die Kinder können nichts dafür, wenn die Eltern etwas Unerlaubtes getan haben. Die anonyme Geburt wird ebenfalls neu geregelt. Ganz generell hat jedes Kind das Recht, seine Herkunft in Erfahrung zu bringen. Nur muss dies mit einer anonymen Geburt bestmöglich vereinbar sein. Im Moment arbeiten wir genau an diesem Thema. Ich werde in den nächsten Wochen einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen. Es wird also zwei Gesetze geben, einmal die Abstammung an sich und dann den Text, der das Recht des Kindes seine Herkunft zu kennen, regelt.

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