Interview mit Sam Tanson im Luxemburger Wort

"Die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Sam Tanson, das Justiz-Kapitel der Verfassung wurde am 20. Oktober in erster Lesung vom Parlament verabschiedet. Wie bewerten Sie den neuen Text?

Sam Tanson: Der neue Text ist ein guter Kompromiss. Zuvor hatte es vor allem wegen der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft ziemlich heftige Diskussionen gegeben. Ich bleibe der Meinung, dass die Strafverfolgung in aller Unabhängigkeit erfolgen können muss, und dass die Regierung nur generelle Vorgaben machen darf. Der neue Text stärkt die Magistratur, weil ihre Unabhängigkeit und der nationale Justizrat nun explizit in der Verfassung verankert werden.

Luxemburger Wort: Das Basisgesetz zum Justizrat lässt auf sich warten. Der ursprüngliche Text wurde wegen der teils harten Kritik vollständig überarbeitet und in zwei separate Gesetzentwürfe aufgespalten. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Sam Tanson: Die Arbeiten am Gesetzentwurf zum Justizrat verzögerten sich, weil der definitive Text zum Justiz-Kapitel noch verhandelt wurde. Deshalb konnten wir nicht weitermachen. Wenn beispielsweise die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft nicht zurückbehalten worden wäre, hätte das natürlich Auswirkungen auf die Funktionsweise des Justizrats, aber auch auf das Statut der Magistrate gehabt. Es gab auch Diskussionen über die Zusammensetzung. Die EU-Kommission hat auf eine ausgeglichene Besetzung gedrängt und verlangt, dass die Magistrate, die dem Justizrat angehören, gewählt werden. Ursprünglich war vorgesehen, dass die drei Chefs de corps dem Rat automatisch angehören. Um das neue Gremium nicht von Anfang an der internationalen Kritik auszusetzen, haben wir deshalb noch einmal nachgebessert.

Luxemburger Wort: Besteht nicht das Risiko, dass es bei der Verfassung zu einer Hängepartie kommt, weil das Basisgesetz für den Justizrat noch nicht verabschiedet ist?

Sam Tanson: Das Risiko besteht. Ich habe deshalb mehrfach im Justiz- und im Institutionenausschuss darauf hingewiesen, dass das Gesetz die conditio sine qua non ist, damit die Verfassung in Kraft treten kann. Dennoch war es richtig, den ursprünglichen Text zu spalten. In dem ersten Gesetzentwurf geht es um den Justizrat selbst, in dem zweiten um das Statut der Magistrate. Der Staatsrat wurde bereits mit beiden Texten befasst. Ich hoffe, dass die Gutachten möglichst schnell kommen.

Luxemburger Wort: Die Verfassung garantiert die individuellen Freiheiten. Nun soll eine Impfpflicht eingeführt werden. Wie passt das zusammen?

Sam Tanson: Um eins klarzustellen: Ich will nicht partout eine Impfpflicht. Sie ist kein Wundermittel und kein Selbstzweck. Sie stellt einen Eingriff in die Freiheiten des Einzelnen dar. Sie ist aber ein Hilfsmittel, um endgültig aus der Pandemie herauszukommen. Die Frage nach der Beschneidung der Rechte und Freiheiten hat nicht erst mit der Diskussion um die Impfpflicht begonnen. Seit dem Beginn der Pandemie befinden wir uns in einem Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Schutz der Allgemeinheit. Als ich Justizministerin wurde, habe ich nicht einmal im Traum daran gedacht, dass ich gezwungen sein würde, die Rechte der Bürger einmal derart zu beschneiden. Das war einfach unvorstellbar. Wenn wir über eine Impfpflicht nachdenken, müssen wir daher unbedingt im Hinterkopf behalten, dass wir in den vergangenen zwei Jahren viele freiheitseinschränkende Maßnahmen verhängen mussten. Die Verpflichtung ist ein Weg, um die Restriktionen zu überwinden und um präventiv vorzugehen, um neue Einschränkungen im Herbst zu vermeiden. Auf der anderen Seite stellt sie einen Eingriff in das Recht der körperlichen Unversehrtheit dar. Wir müssen also abwägen, die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden. Deshalb war es wichtig, dass wir die Meinung der Wissenschaftler und Mediziner eingeholt haben. Nur so können wir in Erfahrung bringen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form eine Impfpflicht erforderlich ist.

Luxemburger Wort: Die Regierung ist dem Vorschlag der Wissenschaftler gefolgt und hat sich für eine sektorielle und eine altersabhängige Impfpflicht entschieden. Die Meinung der anderen Gremien, wie etwa der Ethikkommission oder der Menschenrechtskommission, wurden nicht berücksichtigt. Weshalb?

Sam Tanson: Die Gesundheitsexperten kamen zum Schluss, dass nur den Personen über 50 Jahren eine Impfpflicht auferlegt wird. Damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird, wäre eine Pflicht ihrer Meinung nach nur bei dieser Altersgruppe wirklich erforderlich. In Anbetracht dieser wissenschaftlichen Analyse finde ich es schwierig, einen größeren Teil der Bevölkerung zur Impfung zu verpflichten. Die Impfung ist ein Eingriff in die persönlichen Freiheiten, der so klein wie möglich gehalten werden muss. Wegen der wissenschaftlichen Schlussfolgerung, dass es reicht, die Bevölkerung über 50 Jahre zur Impfung zu verpflichten, sehe ich ein Risiko, dass bei einer generellen Impfpflicht die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt wäre. Ein Gesetz für eine generelle Impfpflicht könnte auf wackligen Füßen stehen.

Luxemburger Wort: Beinhaltet die Lösung, die die Regierung nun zurückbehalten hat, nicht das Risiko einer Diskriminierung?

Sam Tanson: Die Spaltung der Gesellschaft macht mir große Sorgen. Ich verstehe sehr gut, dass die Befürworter einer generellen Impfpflicht vor einer möglichen Diskriminierung warnen. Meiner Meinung nach handelt es sich aber nicht um eine Diskriminierung. Es gibt durchaus objektive Gründe, einem Teil der Bürger zu sagen, sie sollen sich impfen lassen, um ihre eigene und die Gesundheit der Allgemeinheit zu schützen. Was die Mitarbeiter des Gesundheitssektors anbelangt, bin ich der Überzeugung, dass sie verpflichtet sind, diejenigen zu schützen, die sie in ihrer Obhut haben. Eine Impfpflicht für die Gesundheitsberufe ist also vertretbar.

Luxemburger Wort: Wäre es nicht einfacher gewesen, eine gesetzliche Basis für eine generelle Impfpflicht zu finden? Hätte das nicht zu mehr Rechtssicherheit geführt?

Sam Tanson: Nein, denn auch bei einer generellen Impfpflicht hätte eine Altersgrenze in dem Text verankert werden müssen. Eine Impfpflicht für Minderjährige stand von Anfang an außer Frage. Bei der sektoriellen Impfpflicht geht es darum, ein Schutzschild um die Vulnerablen aufzubauen, Kranke oder ältere Personen sind nun einmal anfälliger.

Luxemburger Wort: Der Erfolg einer Impfpflicht hängt auch von den Sanktionen ab. Welchen Weg wollen Sie hier beschreiten?

Sam Tanson: Wahrscheinlich wird es zu administrativen Strafen kommen, die aber rekurrenten Charakter haben werden. Das heißt, wer das Gesetz nicht befolgt und sich nicht impfet lässt, kann mehrmals belangt werden. Allerdings dürfen wir die Höhe der Bußgelder nicht zu hoch ansetzen, um zu verhindern, dass Personen mit geringem Einkommen die Strafe nicht bezahlen können.

Luxemburger Wort: Sie haben angedeutet, dass der Gesetzentwurf in etwa drei Monaten fertig sein könnte. Wann wird die Impfpflicht in Kraft treten?

Sam Tanson: Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet, die für die Ausarbeitung des Textes zuständig ist. Darin sind neben dem Justizministerium auch das Staatsministerium sowie die Ressorts Gesundheit, Beschäftigung, Finanzen, Digitalisierung und Familie vertreten. Wir bereiten den Text gemeinsam vor. Die Kriterien, mit denen wir die Impfpflicht begründen werden, werden auch am weiteren Verlauf der Pandemie gemessen. Wenn es so weit ist, wird sich zeigen, ob wir eine Impfpflicht wirklich brauchen oder nicht. Ich wäre froh, wenn wir dar auf verzichten könnten. Doch die Pandemie hat uns in den vergangenen zwei Jahren immer wieder überrascht, niemand kann heute sagen, wie sich die Lage im Herbst präsentiert. Wir müssen daher vorbereitet sein.

Luxemburger Wort: Wegen der Corona-Maßnahmen kommt es immer wieder zu Ausschreitungen. Der Ton wird rauer. Die Gegner ziehen sogar vor die Wohnungen von Politikern und Journalisten. Es gab auch Morddrohungen. Sie haben einen Text angekündigt, der die Weitergabe von persönlichen Daten in den sozialen Medien unter Strafe stellt. Was muss man sich darunter vorstellen?

Sam Tanson: Die Ausschreitungen sind sehr belastend, vor allem für die Polizeibeamten, die jedes Wochenende im Einsatz sind. Aber auch für die Geschäftsleute und die vielen Menschen, die einfach nur in die Stadt gehen wollen. Ich kann nachvollziehen, dass man nicht mit den Corona-Maßnahmen einverstanden ist. Jeder hat das Recht, dagegen zu demonstrieren. Doch die Ausschreitungen sind nicht akzeptabel. Um die Gesetzesverstöße im Rahmen der Demonstrationen zu ahnden, müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Das geltende Strafrecht sieht eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, um gegen Personen vorzugehen, die sich nicht an die Spielregeln halten. Punktuell sollten wir aber nachbessern, etwa beim Tatbestand der Rebellion gegen die Ordnungskräfte. Es erscheint mir sinnvoll, die Strafen anzuheben. Ein weiterer Punkt betrifft das Bespucken von Polizisten, was in der aktuellen Situation besonders problematisch ist. Es muss auch ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, damit die Polizei in den sozialen Medien verdeckt unter einem Pseudonym ermitteln kann. Aktuell ist dies nur bei schweren Verbrechen möglich, wir müssen diese Möglichkeit auch auf Delikte ausweiten.

Nicht nur die Politiker werden permanent kritisiert, auch Journalisten geraten immer häufiger ins Visier der Corona-Gegner. Die Angriffe reichen mittlerweile bis in die Privatsphäre hinein. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Angriffe auf die freie Presse sind Angriffe auf einen der Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit. Es ist nicht akzeptabel, wenn Todesdrohungen gegen Journalisten ausgesprochen oder ihre privaten Daten in den sozialen Netzwerken verbreitet werden - und das auch noch von Mandatsträgern. Diese Einschüchterungsversuche sind nicht hinnehmbar. Wenn man private Daten in Zukunft mit dem Ziel der Einschüchterung verbreitet, dann soll das unter Strafe gestellt werden. In Frankreich gibt es bereits eine solche Regelung. Ich verschließe mich auch einer Debatte über ein generelles Demonstrationsgesetz nicht. Es ist natürlich eine heikle Diskussion, weil auch hier in eine Freiheit eingegriffen wird.

Luxemburger Wort: Im Herbst haben Sie einen Gesetzentwurf eingereicht, um den Umgang mit den Einträgen in der Jucha-Datei neu zu regeln. Die Gutachter, aber auch die Opposition, betonen, dass der Text in die richtige Richtung geht. Wie geht es nun weiter?

Sam Tanson: Wenn alle Gutachten vorliegen, werden wir die nötigen Änderungsanträge einbringen. Ich hoffe, dass der Entwurf möglichst bald zur Abstimmung kommt. Ich will aber unterstreichen, dass die neuen Regeln, etwa zum Zugang oder zur Speicherdauer, bereits angewendet werden. Diese Regeln erhalten durch das Gesetz eine juristische Grundlage.

Luxemburger Wort: Die Arbeiten am neuen Jugendschutzgesetz kommen nur mühsam voran. Wie ist der Stand der Dinge?

Sam Tanson: Wir arbeiten mit Hochdruck an dem Projekt, wir befinden uns auf der Zielgeraden. Wir arbeiten übrigens eng mit dem Kinder- und Jugendministerium zusammen, das für den Bereich Jugendschutz verantwortlich ist. Das aktuelle Gesetz aus dem Jahr 1992 regelt sowohl den Jugendschutz als auch den strafrechtlichen Bereich. Es unterscheidet also nicht zwischen dem Straftäter und dem Jugendlichen, der geschützt werden soll.

Wir brauchen aber eine Trennung. Es gibt nun drei völlig neue Texte. Der erste Entwurf behandelt das Jugendstrafrecht, in dem zweiten geht es um die Opfer und der dritte umfasst den eigentlichen Jugendschutz. Das bedeutet, dass das Jugendstrafrecht eine eigene gesetzliche Basis erhält.

Wir arbeiten weiterhin eng mit der früheren Präsidentin des UN-Kinderrechtsrats Renate Winter zusammen, auch um den internationalen Vorgaben gerecht zu werden. Es handelt sich um eine sehr komplexe und delikate Materie. Das führte dazu, dass sich die Fronten zwischen den einzelnen Beteiligten leider derart verhärtet haben, dass eine gemeinsame Lösung nicht mehr möglich war. Zusammen mit Minister Meisch haben wir daher eine Reihe von politischen Entscheidungen getroffen. Die Texte gehen noch vor Ostern auf den Instanzenweg. Der ursprüngliche Entwurf wird zurückgezogen.

Luxemburger Wort: Sie haben vor wenigen Wochen einen neuen Text zum sexuellen Missbrauch vorgelegt. Darin geht es auch um einen besseren Schutz von Minderjährigen. Wo liegen die Schwerpunkte?

Sam Tanson: Der Entwurf reformiert generell das Strafrecht in Bezug auf sexuelle Gewalt. Es geht nicht nur um Minderjährige, die Opfer von sexueller Gewalt werden. Die Botschaft des neuen Textes lautet: Die Täter können zur Rechenschaft gezogen werden, auch lange nach der Tat. Es beginnt bereits bei der Terminologie. Das aktuelle Recht spricht immer noch von 'atteinte à la pudeur', darum geht es aber nicht. Es geht um einen Angriff auf die sexuelle Integrität. Das Strafmaß wird ebenfalls angepasst, einige Strafen werden verschärft. Der wichtigste Punkt betrifft die Verjährungsfristen. Sie werden generell verlängert, bei einigen Straftatbeständen wird die Verjährung ganz aufgehoben. Aktuell sieht das Strafrecht vor, dass Jugendliche, die Opfer einer Vergewaltigung oder eines Inzests wurden, nach ihrer Volljährigkeit noch zehn Jahre Zeit haben, um Klage gegen den Täter einzureichen. Das reicht in meinen Augen nicht, weil die Opfer sich oft erst nach langer Zeit bewusst werden, was ihnen angetan wurde und auch dann erst darüber sprechen können. Sie brauchen also Zeit, um sich zu wehren. Vergewaltigung von Minderjährigen oder Inzest sind mit die schwersten Verbrechen, die man einem Menschen antun kann.

Die Opfer werden wahrscheinlich nie ein normales Leben führen können. Ihr Leben wird durch die Tat in seinen Grundfesten erschüttert. Man mag einwenden, dass es nach 20 oder 30 Jahren kaum noch möglich ist, Beweise zu finden. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass solche Verbrechen nicht verjähren dürfen.

Luxemburger Wort: Thema Abstammungsrecht. Die Reform befindet sich seit Jahren auf dem Instanzenweg. Wann und wie geht es weiter?

Sam Tanson: Die Reform ist in der Tat schon seit Jahren anhängig und wurde zwischenzeitlich ganz überarbeitet. Der Staatsrat hat im vergangenen Juli sein Zusatzgutachten vorgelegt. Er beanstandet, dass wir bio-ethische Fragen über den Weg des Zivilrechts klären wollen, weil es kein Bio-Ethik-Gesetz gibt. Ich kann diese Kritik nachvollziehen.

Die vielen formalen Einwände stellen den Text fundamental infrage. Ich habe daher nach Absprache mit der Regierung beschlossen, einen neuen Text auszuarbeiten und diesen weitgehend zu vereinfachen, indem wir uns auf die zivilrechtlichen Aspekte konzentrieren. Dieser Text wird noch in diesem Jahr auf den Instanzenweg gehen.

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