Interview mit Sam Tanson im Télécran

"Die Revolution ist im Gange"

Interview: Télécran (Manon Kramp)

Télécran: Frau Tanson, Ihre Partei musste bei den Kommunalwahlen herbe Verluste einstecken. Nimmt einem das den Wind aus den Segeln?

Sam Tanson: Unser Ergebnis war durchwachsen. In einigen Gemeinden haben wir im Vergleich zu 2017 verloren. Darunter waren aber welche, in denen wir damals außergewöhnlich gut abgeschnitten hatten. In anderen konnten wir zulegen - neu angetretene Mannschaften schafften auf Anhieb den Sprung in den Gemeinderat. Natürlich freut man sich mehr, wenn man zusätzlichen Rückenwind bekommt. Das war leider nicht der Fall.

Télécran: Laut Politmonitor vom Juli wünschen sich 22 Prozent der Befragten, dass die Grünen auch in einer künftigen Regierung eine Rolle spielen - im April waren es noch 29 Prozent. Wie wollen Sie diesen Abwärtstrend bis zu den Nationalwahlen umkehren?

Sam Tanson: Umfragen sind Momentaufnahmen. Natürlich hinterfragen wir das. Wenn mehr als jeder Fünfte uns in einer Regierung sehen will, ist das jedoch kein schlechtes Ergebnis. Wir sind weiterhin motiviert, denn wir haben vieles von dem umgesetzt, mit dem wir angetreten waren, und wir verteidigen bei den Parlamentswahlen eine starke Bilanz. Unter François Bausch hat ein Paradigmenwechsel in der Mobilität stattgefunden. Diese Revolution ist heute in vollem Gange. Luxemburg ist das Land in Europa, das mit Abstand am meisten pro Kopf in die Schiene investiert. Die Tram wird weiter ausgebaut, das Fahrrad hat seinen Platz im Straßenraum gefunden. Wir produzieren inzwischen so viel erneuerbare Energie, wie unsere Haushalte verbrauchen. Allein bei der Windenergie erzielten wir seit 2012 eine Vervierfachung. Selbst in Ressorts, die man weniger mit den Grünen verbindet, bei der Polizei zum Beispiel, ist die Bilanz positiv. Unter den Ministern François Bausch und Henri Kox wurde so viel eingestellt wie nie zuvor: In den letzten fünf Jahren gab es einen Nettozuwachs von mehr als 700 Polizisten und Mitarbeitern. Es war mir ein besonderes Anliegen, den Kultursektor während der Corona-Pandemie nicht im Stich zu lassen. Wir haben ihn in den letzten Jahren sogar gestärkt und ich bin dankbar für die Anerkennung, die ich von dieser Seite aus erhalte. Wir haben auch die Unabhängigkeit der Justiz durch den Conseil National de la Justice gestärkt und in den letzten Wochen wurden noch mehrere wichtige Gesetze im Parlament verabschiedet.

Télécran: Und doch bleiben wichtige offene Baustellen, etwa die Legalisierung von Cannabis...

Sam Tanson: Beim Cannabisgesetz wurde der Heimanbau, also der Teil, für den ich als Justizministerin hauptsächlich zuständig war, gestimmt. Der weitergehende Teil, der dem Gesundheitsministerium unterliegt, wurde durch die Pandemie verzögert, er ist aber in Arbeit. Das Konzept wurde bereits vom Regierungsrat angenommen.

Télécran: Und der Wohnungsbau?

Sam Tanson: Vor der letzten Legislaturperiode gab es nur zwei Prozent an Logement abordable. Das war einfach zu wenig, denn gerade da haben Staat und Kommunen die Möglichkeit, die Miethöhe festzulegen. Wenn es aber zu wenig Wohnungen in öffentlicher Hand gibt, die günstig vermietet werden können, fehlen Steuerungsmöglichkeiten. Viele Texte wurden inzwischen auf den Instanzenweg gebracht und in der Kammer gestimmt, zum Beispiel die Beihilfen zur Stärkung von bezahlbarem Wohnraum. Die Investitionen in den sozialen Wohnungsbau sind enorm gestiegen. Einige Texte - wie die Besteuerung von Bauland und die Grundsteuer - wurden auf Regierungsebene von Innenministerin Taina Bofferding zusammen mit Finanzministerin Yuriko Backes und Wohnungsbauminister Henri Kox ausgearbeitet, haben aber den Gesetzgebungsprozess noch nicht durchlaufen. Darüber wurde diskutiert, seit ich mich erinnern kann, aber niemand hatte dies bisher in Angriff genommen.

Télécran: Können Sie sich eine Fortsetzung der jetzigen Koalition vorstellen?

Sam Tanson: Wir haben sehr gut zusammengearbeitet und das in sehr schwierigen Zeiten. Wir haben das Land durch eine Pandemie geführt. Wir haben als Koalition eine Energiekrise gemeistert und wir konnten mit unseren Maßnahmen die Inflation so niedrig halten wie nur wenige andere Länder in Europa. Es ist bemerkenswert, dass wir das als Dreierkoalition geschafft haben - mit Diskussionen, aber friedlich und mit gemeinsamer Energie. Darauf blicke ich sehr positiv zurück und ich kann mir deshalb auch eine Fortsetzung vorstellen.

Télécran: Wäre auch Schwarz-Grün denkbar?

Sam Tanson: Ich schließe eine Koalition mit der CSV nicht aus. Das hängt letztlich vom Wahlausgang ab und von der gemeinsamen Schnittmenge, wenn es um ein Koalitionsabkommen geht.

Télécran: Bei welchen Themen werden Sie keine Abstriche hinnehmen?

Sam Tanson: Wir müssen unsere Errungenschaften verteidigen, zum Beispiel auf gesellschaftspolitischer Ebene, bei der Gleichstellung von Mann und Frau, wenn es um die Rollenverteilung zu Hause und am Arbeitsplatz geht. Deshalb wurde der Congé parental ausgeweitet. Wir können es uns nicht erlauben, Klimafragen zu ignorieren und wir müssen im Sinne der sozialen Gerechtigkeit diejenigen unterstützen, die Hilfe brauchen.

Télécran: Was sind Ihre roten Linien?

Sam Tanson: Ich arbeite nicht mit roten Linien. Man muss verhandeln und kompromissbereit sein. Jeder hat seine Schwerpunkte und man muss den anderen Parteien zuhören und versuchen, sich einander anzunähern. Das schafft man nicht, wenn man schon mit roten Linien in eine Diskussion geht.

Télécran: Könnte es auch Gespräche mit der ADR geben?

Sam Tanson: Nein, mit der ADR sind in unseren Augen keine Diskussionen möglich. Wir sehen die Positionen, die dort vertreten werden, unter anderem wenn es um die Toleranz gegenüber homosexuellen, trans oder queeren Menschen geht. Ein sehr heikler Diskurs. Auch beim Klima sehen wir keine Schnittmengen. Mich alarmiert die Entwicklung der AfD in Deutschland und ich finde die Äußerungen verschiedener ADR- beziehungsweise Ex-ADR-Politiker, in welche Richtung es gehen soll, extrem beunruhigend. Dasselbe gilt für einzelne Positionen von Déi Lénk im internationalen Kontext. Die Grünen sind eine europäische Partei. Für uns spielt die Nato eine wichtige Rolle und sie hat diese auch im Ukraine-Krieg bewiesen. Deshalb finde ich es problematisch, wenn es für jemanden nicht eindeutig ist, dass Russland die Ukraine angegriffen hat und für die Folgen verantwortlich ist.

Télécran: Fast alle Parteien haben grüne Themen auf ihrer Agenda. Werden Déi Gréng überflüssig?

Sam Tanson: Wir beobachten diese Grünfärberei schon seit einiger Zeit. Nur weil man sich etwas auf die Fahne schreibt, heißt das nicht, dass man es auch tut. Der Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Es wäre dramatisch, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Doch diese Ideen werden oft sprachlich nuanciert: "Wir müssen mehr für das Klima machen, aber..." Natürlich gibt es andere wichtige Themen, doch es ist kontraproduktiv, das eine gegen das andere auszuspielen. Das, was gesagt wird, stimmt also nicht unbedingt mit dem überein, was in der Praxis umgesetzt wird. Wir haben auf EU-Ebene beispielsweise gesehen, dass die ÖVP, die Mutterpartei der CSV, nicht für eine sehr wichtige Naturschutzverordnung gestimmt hat.

Télécran: Mehr Kaufkraft, mehr Wachstum, mehr Wohnraum, aber weniger Steuern - damit werben viele Parteien um die Gunst der Wähler. Können sie solche Versprechen überhaupt einlösen?

Sam Tanson: Man sollte nichts versprechen, was man nicht halten kann. Wir brauchen mehr und vor allem mehr bezahlbaren Wohnraum, das ist eine Prämisse für soziale Gerechtigkeit. Den größten Steuerungseffekt erzielen wir, wenn Staat und Gemeinden mehr öffentlichen Wohnraum zur Verfügung stellen. Das ist notwendig, aber es muss auch machbar sein. In den letzten zehn Jahren wurde sehr viel investiert und angesichts der Krise, in der sich der Bausektor befindet, ist es wichtig, dass der Staat dies weiterhin tut. Aber um die Investitionen hoch zu halten und sie gerecht zu verteilen, braucht man Einnahmen. Steuersenkungen für alle, diese Rechnung geht nicht auf. Dann muss man auch sagen, wo man sparen will, damit der Staat wie gewohnt funktionieren kann.

Télécran: Das Klima retten - aber nicht auf meine Kosten. Schalten die Luxemburger ihr ökologisches Gewissen auf Standby, wenn sie dafür ihre Komfortzone verlassen müssen?

Sam Tanson: Das ist kein rein luxemburgisches Phänomen, sondern das liegt in der Natur des Menschen. Wir sind bequem geworden. Wir dürfen aber keine Scheuklappen aufsetzen und müssen uns in die Zukunft projizieren. Dieser Sommer zeigt bereits die Auswirkungen des Klimawandels. Überall brennt es. Die Produktion unserer Nahrungsmittel wird schwieriger, weil der Regen ausbleibt oder zu wenig Wasser vorhanden ist. Unsere Wälder sterben. Die Wissenschaftler sagen, dass wir jetzt noch gegensteuern können, damit unsere Kinder und ihre Nachkommen nicht extrem unter den Folgen leiden müssen. Dieser Gedanke leitet mich. Wir tragen alle Verantwortung für die Welt, die wir hinterlassen.

Télécran: Die Grünen spüren zurzeit viel Gegenwind und werden oft als Verbots- und Verzichtspartei bezeichnet. Verletzt Sie dies?

Sam Tanson: Während einer Chambersitzung sagte mir erst neulich ein Oppositionspolitiker, er sei froh, dass wir mal etwas erlaubt hätten, statt nur zu verbieten. Ich fragte ihn nach Beispielen, wo die Grünen nur für Verbote sind: Es kam nichts. Manche versuchen eben, den Gegner mit markigen Sprüchen, die sie womöglich nur irgendwo kopiert haben, schlechtzureden. Es ist natürlich Unsinn, in solchen Schablonen zu denken. Alle Gesetze beinhalten Regeln und viele sehen Verbote vor. Das hat nichts mit den Grünen zu tun. Im Gegenteil, die Weichen, die wir jetzt stellen, sollen unsere Freiheiten schützen. Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell man in Verbote verfällt, wenn man unvorbereitet handeln muss. Genau das wollen wir vermeiden. Aber wir müssen individuell und kollektiv unseren Lebensstil überdenken.

Télécran: Eine Umstellung, die Luxemburg nicht alleine stemmen kann...

Sam Tanson: Die EU hat sich ambitionierte Klimaziele gesetzt. Es wäre nicht gut, wenn wir als kleines Land bei dieser Klimapolitik nur als blinder Passagier mit-schwimmen würden. Wir gewinnen sogar, wenn wir beim Klimaschutz eine Vorreiterrolle einnehmen und alle Sektoren bei dieser Transition unterstützen. In ein paar Wochen werden zum Beispiel die ersten Solarpaneele hierzulande produziert. Als Europäer müssen wir so unabhängig wie möglich werden und auf innovative Industrien setzen.

Télécran: Wie kommt man als grüne Partei aus dem Dilemma heraus, das eigentlich drängendste Problem unserer Zeit, den Klimawandel, auch mit Verboten und Verzicht zu bekämpfen, während viele Bürger angesichts der schlechten Wirtschaftslage notgedrungen zuerst an sich und ihren Geldbeutel denken?

Sam Tanson: Wir sind uns dessen bewusst, doch wir betreiben Klimapolitik nicht nur für Menschen, die sie sich leisten können. Energie etwa hat einen hohen Kostenpunkt. Viele Hausbesitzer setzen heute auf Wärmepumpen und Solarzellen auf dem Dach. Sie erhalten dadurch mehr energetische Unabhängigkeit, ihre Rechnungen sinken und sie erhalten Zuschüsse. Der Staat fördert und begleitet, Bürger und Klima gewinnen. So funktioniert das Modell, das wir uns vorstellen. Wir wollen zudem bei den Klimabeihilfen einen Tiers Payant einführen: Der Staat streckt die Fördergelder vor, sodass man nicht mehr auf die Rückzahlung warten muss. Das soll den Umstieg erleichtern. Bei den Prämien gibt es zudem einen Aufschlag für Personen mit niedrigerem Einkommen. Und weil bei der Elektromobilität trotz der Beihilfe von bis zu 8000 Euro immer noch ein Preisunterschied zum Verbrenner besteht, schlagen wir ein Leasing social vor, dank dem jeder zu einem günstigen Preis über ein E-Fahrzeug verfügen kann.

Télécran: Wenn es zu einer Neuauflage von Blau-Rot-Grün käme: Wären Kultur und Justiz wieder Ihre Wunschministerien?

Sam Tanson: Die Kombination dieser Ministerien liegt mir, weil sie zwei Seiten meiner Persönlichkeit und zwei Leidenschaften vereint. In der Kultur steckt mein Herzblut. Die Justiz ist ein Kernministerium. In der letzten Legislaturperiode wurden 80 Gesetze verabschiedet, etliche sind in Arbeit, und ich weiß, was ich in den nächsten fünf Jahren noch umsetzen möchte. Aber ich bin ein vielseitig interessierter Mensch und verschließe mich keiner anderen Aufgabe.

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