Interview mit Sam Tanson im Luxemburger Wort

"Ein Minderjähriger muss genau wissen, ob er gerade bestraft oder geschützt wird"

Interview: Luxemburger Wort (Maximilian Richard)

Luxemburger Wort: Sam Tanson, die Justizbehörden kritisieren die geplante Jugendschutzreform in einem Gutachten scharf. Haben Sie mit einer solchen Reaktion auf das Projekt gerechnet?

Sam Tanson: Ich finde das Gutachten sehr gut und tiefgreifend. Wir werden sicherlich vielen prozeduralen Punkten Rechnung tragen. Auf die Kritik war ich gefasst, da mir bewusst war, dass wir uns bei den Grundprinzipien der Reform nicht einig sind. Ich habe mich damals für die Trennung von Jugendschutz und Jugendstrafrecht entschieden – mit allen Konsequenzen. Ich verstehe auch, dass damit nicht jeder einverstanden ist. Mir ist es aber wichtig, nochmals den historischen Kontext zu setzen. Das aktuelle Gesetz stammt aus dem Jahr 1992, bereits ein Jahr später hat Luxemburg die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Und eigentlich führen wir seitdem hierzulande Diskussionen darüber, dass der Gesetzestext nachgebessert werden muss. Ein erster Reformversuch Anfang der 2000er-Jahre scheiterte, ebenso wie der zweite Versuch 2018. Damals war bereits ganz viel Vorarbeit geleistet worden. Es gab eine Arbeitsgruppe und viele Diskussionen. Der zweite Reformversuch wurde aber von mehreren Seiten stark kritisiert. Als ich 2019 das Ministerium übernommen habe, war mir bewusst, dass ich bei kruzialen Punkten Entscheidungen treffen muss. Ich habe dann nochmals von allen Akteuren die Standpunkte gesammelt und bin zur Konklusion gekommen, dass es wichtig wäre, einen externen Experten hinzuziehen.

Luxemburger Wort: Unter dem Strich kommen die Justizbehörden zu dem Schluss, dass die Reform in der Praxis nicht umsetzbar ist. Hätten Sie die Justiz bei der Ausarbeitung der Texte nicht mehr einbeziehen müssen?

Sam Tanson: Die Justizbehörden wurden einbezogen. Siekonnten sich so viel einbringen, wie sie wollten. um Text zum Jugendstrafrecht haben wir uns relativ viel mit ihnen ausgetauscht. Wir haben dabei auch Kritikpunkten Rechnung getragen – nicht nur denen der Justizbehörden. Es ist eigentlich normal, dass nachgebessert wird. Wir sind in einem legislativen Prozess. Ich habe bereits vor einigen Wocheneinem Vertreter der Staatsanwaltschaft versichert, dass wir alles unternehmen werden, damit der Text in der Praxis auch funktioniert. Zeitnah werden auch weitere Treffen mit Vertretern der Justiz stattfinden. Die Grundsatzdifferenzen müssen wir überwinden, damit wir einen Text bekommen, der für jeden funktioniert.

Luxemburger Wort: Die österreichische Richterin und frühere Präsidentin des UN-Kinderrechtsrats Renate Winter hat die Ausarbeitung der Reform eng begleitet. Gab es keine Überlegungen, ebenfalls einen luxemburgischen Experten hinzuzubeziehen?

Sam Tanson: In Luxemburg gab es einfach zwei Fronten. Es wäre schwierig gewesen, sich für eine Seite zu entscheiden. Die vorherige Reform wurde von einer großen Arbeitsgruppe ausgearbeitet. Das war auch ein Fehlschlag. Gemeinsam mit dem Bildungsminister war ich deshalb der Meinung, dass Renate Winter, die einen solchen Prozess bereits in vielen Ländern begleitet hat, die richtige Wahl ist. Das bedeutet nicht, dass wir keinen Austausch mit den Luxemburger Akteuren hatten.

Luxemburger Wort: Die Reform bricht mit der aktuellen Gesetzgebung und trennt Jugendschutz und Jugendstrafrecht strikt voneinander. Warum wurde dieser Weg gewählt?

Sam Tanson: Der alte Text wird nicht komplett verworfen. Wir bauen viel auf das Bestehende auf. Wir passen uns jedoch an die Empfehlungen und den Text der UN-Kinderrechtskonvention an. Und diese verlangen, dass ein Kind immer weiß, in welcher Situation es sich befindet. Auch muss es über die gleichen Rechte und Garantien verfügt wie ein Erwachsener. Das ist in Luxemburg zurzeit nicht der Fall. Etwa können Minderjährige jeweils für drei Monate in die Unisec (Anm. d. Red.: die geschlossenen Einheit des Centre socio-éducatifde l'Etat in Dreiborn) untergebracht werden. Es ist nicht der richtige Begriff, aber salopp ausgedrückt ist dies ein "CDD renouvelable". Die Strafe kann immer wieder erneuert werden. Das wäre bei einem Erwachsenen nichtvorstellbar. Mit der Reform schaffen wir ein komplettes Strafrecht für Minderjährige, das das Strafmaß für Vergehen und auch das Alter der Strafmündigkeit klar regelt.

Luxemburger Wort: Laut Justiz trägt die Reform nicht mehr genügend dem Umstand Rechnung, dass straffällige Jugendliche auch schutzbedürftig sind. Bei Jugendschutz und Jugendstrafrecht fehle es an Schnittstellen, so ein Kritikpunkt.

Sam Tanson: Wenn Elemente fehlen, habe ich keine Probleme damit, zusätzliche Schnittstellen zu schaffen. Die Texte sehen auch bereits mehrere vor. Es ist jedoch nichts Außergewöhnliches, dass ein Land über eine rein administrative Schutzgesetzgebung verfügt. Auch im nahen Ausland, etwa in Deutschland, ist dies der Fall. Der Jugendschutzbereich kann aber auch in einer Strafprozedur eine Rolle spielen. Das eine verhindert nicht das andere. Es sind aber unterschiedliche Akteure beteiligt. Ein Minderjähriger muss genau wissen, ob er geradebestraft oder geschützt wird.

Luxemburger Wort: Die Staatsanwaltschaft verliert im Jugendschutzbereich ihre Befugnisse. Stattdessen wird das Office national de l'enfance (ONE) gestärkt. Eine Kommission soll folglich die Entscheidungen übernehmen. Sie soll aber nur einmal die Woche zusammenkommen, was unter anderem bei Notfällen problematisch ist.

Sam Tanson: Der Jugendschutzbereich liegt eigentlich im Kompetenzbereich des Bildungsministeriums. Es scheint sich aber um eine Formulierungsschwierigkeit im Text zu handeln. Von Anfang an war klar, dass Bereitschaftsdienste sowohl von der Kommission als auch von den Jugendrichtern geleistet werden sollen. Es soll stets jemand verfügbar sein, der im Notfall Entscheidungen treffen kann. Es klingt ein wenig so, als ob wir einen Text ausarbeiten wollten, der nicht funktioniert. Das ist aber absurd. Es gibt nichts Dramatischeres für ein Kind, als wenn es aus seiner Familie herausgenommen werden muss. Das sind fürchterliche Situationen. Und wir wollen, dass das so gut wie möglich abläuft. Da kann es nicht sein, dass einem Kind nicht geholfen wird.

Luxemburger Wort: Jugendliche sollen zukünftig erst ab einem Alter von 14 Jahren strafrechtlich belangt werden können. Die Justiz gibt jedoch zu bedenken, dass sie bereits jetzt mit jüngeren Straftätern konfrontiert ist. Auch könne das Mindestalter ausgenutzt werden.

Sam Tanson: Wenn wir konform zur UN-Konvention sein wollen, müssen wir ein Alter festlegen. Natürlich besteht, wenn man ein Alter festlegt, immer ein Risiko, dass dies in einer Form ausgenutzt wird. Bei der Festlegung haben wir uns an die Empfehlungen der UN-Kinderrechtskommission gehalten. Diese basiert sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zum Entwicklungsstand der Jugendlichen. Laut denen können Minderjährige ab einem Alter von 14 Jahren ihre Handlungen bessereinschätzen. Ihre Impulsivität ist zwar noch immer ausgeprägter wie bei einem Erwachsenen, jedoch bereits besser unter Kontrolle. Und vor allem sind Minderjährige sich in dem Alter ihrer Schuld bewusst. Auch andere Länder wie Österreich oder Deutschland haben bereits länger ein solches Mindestalter. Es ist also nicht komplett aus der Luft gegriffen. Und ohnehin, wenn das Strafrecht nichtspielt, dann spielt der Jugendschutz. Das bedeutet, dass ein Kind unter 14 Jahren, das sich etwas zuschulden kommen gelassen hat, unter den Schutzbereich fällt.

Luxemburger Wort: Die Reform soll also punktuell angepasst werden - ohne aber Grundprinzipien wie die Trennung von Jugendschutz und Jugendstrafrecht infrage zu stellen. Wann soll die abgeänderte Version vorliegen?

Sam Tanson: Wir warten noch auf die Gutachten des Staatsrats zu den drei Gesetzestexten. In der Zwischenzeit verarbeiten wir natürlich bereits die Kritikpunkte der Justizbehörden. Auch werden wir uns weiter austauschen. Wir werden jedoch auch die Bedenken anderer Akteure in Betracht ziehen. Wenn es um Minderjährige geht, spielen nämliche zahlreiche Akteure eine Rolle. Wir wollen die Texte aber noch vor dem Ende der Legislaturperiode im Parlament zur Abstimmung bringen.

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