Interview von Sam Tanson im Tageblatt

"Wir befinden uns seit Wochen in einem Angstszenario"

Interview: Tageblatt (Luc Laboulle)

Tageblatt: Die Ausgangssperre wird seit vergangener Woche schrittweise aufgehoben, doch noch gilt die Devise "Bleift doheem". Die Lockerung im Baugewerbe und im Handel bewirkt aber, dass die Disziplin auch in anderen Bereichen nachlässt. Am Wochenende waren vielerorts Menschenansammlungen zu beobachten. War dieser Nebeneffekt gewollt?

Sam Tanson: Nein, es liegt in der Natur des Menschen. In einem demokratischen Staat sind die Bürger glücklicherweise nicht daran gewöhnt, solche Einschränkungen über einen längeren Zeitraum zu ertragen. Dass die Neuinfektionen inzwischen zurückgehen, wurde vor allem dadurch erreicht, dass die Menschen sich diszipliniert an die Vorgaben gehalten haben. Ich verstehe aber, dass ihre Geduld an Grenzen stößt. Viele wollen wieder arbeiten, weil sie sich um ihre berufliche Existenz sorgen. Andere vermissen einfach die sozialen Kontakte. Tatsächlich waren am Wochenende zahlreiche Menschen draußen unterwegs, doch viele von ihnen trugen Masken. Wenn wir den Übergang schaffen in eine neue Art von Normalität, die durch die Einhaltung der elementaren Hygienemaßnahmen gekennzeichnet ist, können wir unsere Freiheit zurückbekommen. Nur so können wir die Infektionszahlen dauerhaft niedrig halten.

Tageblatt: Luxemburg befindet sich seit Wochen in einem sehr widersprüchlichen Zustand: Einerseits hat die Regierung fast unbegrenzte Befugnisse, andererseits hat die Ausgangssperre das öffentliche Leben in den privaten Raum zurückgedrängt und der Kontrolle des Staates weitestgehend entzogen. Wie sinnvoll ist dieser Zustand heute noch?

Sam Tanson: Es gilt, mehrere Dinge gegeneinander abzuwägen. Vor anderthalb Monaten waren wir mit einer rasanten Ausbreitung des Virus in Europa konfrontiert. Die Konsequenzen dieser Ausbreitung waren uns bekannt. Trotz unserer Kapazitäten waren wir uns bewusst, dass wir bei einer Welle, wie es sie in Italien gab, die öffentliche Gesundheit nicht mehr garantieren könnten. Um eine solche unumkehrbare Situation zu verhindern, mussten wir wichtige Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit, die Handels- und Gewerbefreiheit oder das Versammlungsrecht einschränken. Wir müssen die Infektionszahlen nun über eine längere Dauer beobachten. Daher werden wir am Ende der ersten dreiwöchigen Lockerungsphase erneut eine Abwägung der verschiedenen Interessen vornehmen.

Tageblatt: Sind wir nicht bereits an dem Punkt angelangt, an dem der Kollateralschaden durch die Ausgangssperre größer ist als der Schaden, den das Virus direkt anrichtet?

Sam Tanson: Noch nicht ganz. Bislang fehlen uns noch die Daten zu den Auswirkungen, die die Öffnung der Baustellen haben werden. Wenn die Infektionszahlen trotz dieser Öffnung weiter niedrig bleiben, müssen wir neue Schritte einleiten, weil die bisherigen Maßnahmen dann nicht mehr zu rechtfertigen sind. Solange diese Sicherheit aber nicht besteht, müssen wir Vorsicht walten lassen.

Tageblatt: Bei bestimmten Verboten, die zurzeit herrschen, stellt sich die berechtigte Frage, ob es eine rechtliche Basis dafür gibt. Auf welcher Grundlage können zum Beispiel Versammlungen im privaten Raum untersagt werden?

Sam Tanson: Das Bewegen im öffentlichen Raum ist nur unter bestimmten Bedingungen gestattet. Das heißt, man darf nicht jemand anderen besuchen, um eine private Versammlung abzuhalten.

Tageblatt: Nehmen wir an, mehrere Haushalte, die im gleichen Mehrfamilienhaus oder Hochhaus wohnen, treffen sich in einer Wohnung dieses Hauses...

Sam Tanson: (lacht) Ich habe den Text jetzt nicht vor Augen, man müsste noch einmal genau nachprüfen, ob das möglich ist.

Tageblatt: Ein anderes Beispiel: Mehrere Personen treffen sich im Wald.

Sam Tanson: Das geht nicht. Sie dürfen nur mit Menschen spazieren gehen, mit denen Sie zusammen wohnen, außer Sie halten einen Abstand von zwei Metern ein.

Tageblatt: Nehmen wir an, diese Personen gehen alleine los und treffen sich an einem abgelegenen Ort im Wald, wo die Polizei mit großer Wahrscheinlichkeit nie eine Kontrolle durchführen wird. Ist das nicht unfair gegenüber Menschen, die sich mitten in der Stadt treffen, wo das Risiko, einen Strafzettel zu kassieren, ungleich höher ist?

Sam Tanson: Wenn Sie wissen wollen, wo die Polizei kontrolliert und wo nicht, müssen sie den Polizeiminister fragen. Ich weiß nicht, ob diese Beispiele wirklich größere Probleme darstellen. Fakt ist, dass die Menschen die Einschränkungen und Verbote größtenteils respektieren. Die Zahlen zeigen, dass in Luxemburg große Disziplin geherrscht hat. Jede Regel ist eben davon abhängig, wie streng ihre Einhaltung kontrolliert wird. Das ändert aber nichts an der Existenz dieser Regel.

Tageblatt: Wissen Sie, wie viele Klagen gegen Corona-Maßnahmen schon beim Verwaltungsgericht eingereicht wurden?

Sam Tanson: Ich habe keine Kenntnis darüber, was aber nicht heißen will, dass es noch keine Klagen gegeben hat. Ich weiß nur von Bürgern, die ihre Strafzettel nicht bezahlen. Das kann aber viele unterschiedliche Ursachen haben. Wenn die Zahlungsfrist abgelaufen ist, kommt die Angelegenheit vor Gericht. Erst dann wird man sehen, ob es sich um Anfechtungen handelt oder ob die Betroffenen einfach nur nicht bezahlen können.

Tageblatt: Sollte sich über kurz oder lang herausstellen, dass die Pandemiemaßnahmen unangemessen oder zu drastisch waren, könnte es zu einer Welle von Klagen kommen. Wie hoch schätzen Sie dieses Risiko aktuell ein?

Sam Tanson: Es kann aus vielen Gründen geklagt werden. In anderen europäischen Ländern haben die Gerichte bereits Urteile auf der Grundlage von verschiedenen Texten gesprochen. Sowohl im Hinblick auf die Freiheitsberaubung an sich als auch hinsichtlich der Diskrepanz bei der Öffnung von Geschäften. Diese Urteile sind nicht eins zu eins auf Luxemburg übertragbar, aber auch bei uns kann es natürlich zu Klagen kommen. Es wäre durchaus nachvollziehbar tïnd würde zeigen, dass unser Rechtsstaat funktioniert.

Tageblatt: Artikel 32.4 der Verfassung besagt, dass der Krisenzustand ausgerufen werden kann, wenn die vitalen Interessen eines Teils oder der ganzen Bevölkerung bedroht sind oder im Falle einer imminenten Gefahr, die aus einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit hervorgeht. Mitte März traf diese Art der Bedrohung sicherlich zu. Sind die Bedingungen heute noch erfüllt?

Sam Tanson: Solange wir nicht die Garantie haben, dass die Infektionszahlen über einen bestimmten Zeitraum unter Kontrolle sind, ist diese Phase noch aktuell.

Tageblatt: Auch wenn die Sterberate sich mit rund 0,015% als relativ niedrig erweist?

Sam Tanson: Ausschlaggebend sind nicht die Todesfälle, sondern die Verfügbarkeit der Betten und Intensivbetten in unseren Krankenhäusern. Auch die Zahl der Neuinfektionen spielt eine Rolle. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern, dass wir die Ausgangsbeschränkung vor einer Woche gelockert haben. Wir werden die Auswirkungen nun im Auge behalten und die Maßnahmen zu Beginn der zweiten Lockerungsphase am 11. Mai entsprechend anpassen.

Tageblatt: Die Frage bezog sich eigentlich mehr auf die Aufhebung des Krisenzustands als auf die Lockerung der Ausgangsbeschränkung.

Sam Tanson: Beides hängt zusammen. Ich stimme mit Ihnen überein, dass der Ausnahmezustand schnellstmöglich aufgehoben werden muss, aber wir können das erst tun, wenn wir wieder in eine Normalität zurückfinden. Wenn wir den Krisenzustand aufheben, werden alle damit zusammenhängenden Reglemente hinfällig. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, das es uns erlaubt, ausschließlich im Gesundheitsbereich ganz gezielte Maßnahmen zu ergreifen. Dieses Gesetz ist zurzeit in Vorbereitung. Ich bin zuversichtlich, dass wir den Ausnahmezustand verlassen können, sobald es steht. Doch dieses Pandemiegesetz muss natürlich erst den legislativen Prozess durchlaufen.

Tageblatt: Bis wann soll das Gesetzesprojekt vorliegen?

Sam Tanson: Der Text wird zurzeit geschrieben. Sobald er fertig ist, wird er im Parlament diskutiert und durchläuft den üblichen Instanzenweg.

Tageblatt: Welche Bereiche soll der Text konkret behandeln?

Sam Tanson: Es geht darum, in einem normalen Gesetzestext verschiedene Regeln aufzustellen, um Beschränkungen in einem bestimmten Rahmen durchsetzen zu können.

Tageblatt: Das Pandemiegesetz müsste aber eine zeitliche Begrenzung beinhalten, sonst könnte man ja in Zukunft ständig darauf zurückgreifen.

Sam Tanson: Wir werden wohl mehrere Etappen definieren, nach denen die jeweiligen Einschränkungen wieder aufgehoben werden können.

Tageblatt: Könnte das Pandemiegesetz auch bei einer neuen sanitären Krise als rechtliche Grundlage für Sonderregelungen dienen, sodass man in solchen Fällen künftig auf die Ausrufung des Ausnahmezustands verzichten könnte?

Sam Tanson: Ein Ziel ist es schon, dass man in Zukunft in einer ähnlichen Situation wie dieser auf das Pandemiegesetz zurückgreifen könnte. Zurzeit sind jedoch viele Gewissheiten auf den Kopf gestellt. Deshalb finde ich es sehr schwierig, Hypothesen über zukünftige Krisen aufzustellen. Soziale Distanzierung oder das Schließen von Geschäften sind aber fast schon "traditionelle" Maßnahmen, die auch bei anderen Krisen in der Vergangenheit bereits zur Anwendung kamen. Deshalb sollte das Pandemiegesetz sich meiner Meinung nach nicht auf die Corona-Krise beschränken. Die Schweiz hat schon ein solches Gesetz. Luxemburg hat auch ein Gesetz über ansteckende Krankheiten, doch es ist sehr alt und entspricht nicht der heutigen Gesetzgebung. Es ist nicht sicher genug, um es in Krisen wie der, die wir zurzeit erleben, anzuwenden.

Tageblatt: Luxemburg hat sich vorerst gegen den Einsatz einer Tracing- oder Tracking-App ausgesprochen und wartet auf eine europäische Lösung. Wieso?

Sam Tanson: Wir setzen den Hauptakzent auf das manuelle Tracking. Dabei wird nachgefragt, mit wem Infizierte in Kontakt waren. Diese Angaben werden dann nochmals überprüft. Mit den ausreichenden Mitteln können wir auf diese Weise 240 bis 300 Fälle am Tag nachverfolgen. Solange auf europäischer Ebene keine Verpflichtung für eine App existiert, bleiben wir bei dieser Methode. Diese Erfassung ist umfassender als mit einer freiwilligen App, denn die Erfahrung in anderen Ländern zeigt, dass viele Menschen die Anwendung einfach nicht herunterladen. Zudem gibt es zu viele Bedenken im Zusammenhang mit der App, die noch nicht gelöst sind. Für den Fall, dass die App auf EU-Ebene verpflichtend würde, sucht das Digitalministerium aber bereits nach Lösungen.

Tageblatt: Bräuchte es nicht einen rechtlichen Rahmen für den Einsatz einer Tracing-App?

Sam Tanson: Wir arbeiten zurzeit an einem gesetzlichen Rahmen. Ob dieses Element in das Pandemiegesetz integriert wird oder ob es in einem separaten Text geregelt wird, ist aber noch nicht entschieden. Selbst wenn wir keine eigene Anwendung entwickeln, ist es wichtig, dass Restriktionen vorgesehen sind, falls andere Apps kommen. Wir können ja nicht verhindern, dass ein privater Akteur eine Anwendung entwickelt. Sorgen bereitet uns, dass die App umgeleitet werden könnte, indem zum Beispiel ein Laden oder ein Restaurant sie als Zugangsvoraussetzung verlangt. Diese Form der elektronischen Überwachung wäre äußerst problematisch.

Tageblatt: Wie groß ist die Gefahr, dass sich auf diesem Weg eine dauerhafte Form der Überwachung etabliert?

Sam Tanson: Wir befinden uns seit einigen Wochen in einem Angstszenario, das vielen Menschen persönliche Probleme bereitet. Wenn der Mensch Angst hat, ist er bereit, Dinge zu akzeptieren, die er unter normalen Verhältnissen ablehnen würde. Die Regierung hat die Verantwortung, die Ausbreitung des Virus zu verhindern und gleichzeitig den Menschen ihre Freiheiten wiederzugeben. Wir können das aber nicht tun, indem wir Mittel einsetzen, die im Normalfall komplett inakzeptabel wären. In einer Welt der kompletten Überwachung möchte ich jedenfalls nicht leben. Deshalb versuchen wir den Einsatz einer App so gut es geht zu verhindern.

Tageblatt: Der "Groupement des magistrats" hat am Montag in einer Mitteilung eine klare verfassungsrechtliche Trennung zwischen Exekutive und Justiz gefordert, wie sie in der ursprünglichen Verfassungsrevision vorgesehen war. Die CSV und inzwischen auch die ADR blockieren diese Trennung. Wie lautet Ihre Position in dieser Frage?

Sam Tanson: Ich verstehe, dass das Parlament sich wegen der Blockade auf einen Kompromiss geeinigt hat, um die Verfassungsreform vorantreiben zu können. Ich bin aber von dieser Lösung nicht begeistert. Ich bin relativ gespannt auf die Gutachten, die der Staatsrat und die anderen Institutionen dazu abgeben werden. Doch selbst wenn der Kompromiss so durchgeht, heißt das noch lange nicht, dass - wie die ADR es gefordert hat - die Staatsanwälte Beamte des Ministeriums werden.

Tageblatt: Sie unterstützen also eine klare Trennung?

Sam Tanson: Ich bin der Meinung, dass die Staatsanwaltschaft unabhängig von der Politik ihre Arbeit machen muss. Wenn man sich manche europäische Länder ansieht, von denen wir hier nicht so begeistert sind, erkennt man, dass dort wegen dieser engen Verbindung zwischen Politik und Justiz politische Gegner oder andere für die Politik unbequeme Menschen auf einmal den Prozess gemacht bekommen. Ich finde diese Entwicklung äußerst gefährlich. Wir haben unser Strafrecht, die Staatsanwaltschaft hat das Opportunitätsprinzip ("Opportunité des poursuites"). Mir ist kein Fall bekannt, bei dem die Staatsanwaltschaft entschieden hätte, keine Strafverfolgung einzuleiten. Und selbst wenn es einen Fall gäbe, weiß ich nicht, ob es besser wäre, wenn ich darüber entscheiden könnte.

Tageblatt: Wie meinen Sie das?

Sam Tanson: Wir sind ein kleines Land. Wenn ich den Generalstaatsanwalt anweise, in bestimmten Bereichen zu ermitteln, sind wir ganz schnell in einem besonderen Fall. Die Rolle des Justizministers besteht meiner Meinung nach nicht dar in, die Staatsanwaltschaft damit zu beauftragen, einzelne Menschen oder Gruppen zu verfolgen. Wenn sich gesellschaftliche Probleme stellen, wie es zum Beispiel rezent im hauptstädtischen Bahnhofsviertel der Fall war, ist die Staatsanwaltschaft präsent, um mit den Menschen zu diskutieren, und arbeitet mit der Polizei zusammen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Deshalb muss der Justizminister aber keine besonderen Vollmachten über die Staatsanwaltschaft erhalten. Ich habe noch nicht richtig verstanden, welches politische Interesse hinter der Verfassungsblockade stecken soll.

Tageblatt: Für eine Verfassungsänderung braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Dreierkoalition ist der CSV in dieser Frage ausgeliefert. Geht es nur um Macht?

Sam Tanson: Es gab lange Zeit eine Übereinkunft im Parlament. Die CSV hat sich auf einmal davon verabschiedet. Ich verstehe, dass die Mehrheitsparteien sich nun mit der größten Oppositionspartei um eine gemeinsame Lösung bemühen. Es ist aber problematisch, dass die Verfassungsrevision nun an einem Punkt scheitert. Man muss aber erst die Gutachten abwarten und anschließend prüfen, wie wir die praktische Umsetzung noch verfeinern können.

Tageblatt: Generalstaatsanwältin Martine Solovieff hatte kürzlich in einer Pressekonferenz angekündigt, dass die Gerichte harte Strafen bei Verstößen gegen die Corona-Maßnahmen verhängen würden. Steht es ihr zu, eine solche Aussage zu tätigen?

Sam Tanson: Ich weiß nicht, wie sie das genau gemeint hat, ich habe noch nicht mit ihr darüber gesprochen. Vielleicht wollte sie damit nur sagen, dass die Staatsanwaltschaft höhere Strafen fordern werde. Natürlich entscheidet die Staatsanwaltschaft nicht über die Höhe der Strafen, die die Richter verhängen und man kann auch nicht verallgemeinern, indem man sagt, dass in einem bestimmten Kontext härtere Strafen verhängt werden.

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